Von Eichel und Co.
Vielleicht war es im Jahr 1960.
Genauer kann ich das nicht mehr sagen.
Ich war 9 oder 10 Jahre alt und Schüler in der Grundschule am Ort. Damals hieß die noch Volksschule. Im Naturkundeunterricht verfolgte ich sehr interessiert den Stoff.
Das Thema war der Kreislauf der Natur. Blüte, Samen, Früchte, Sprößling, Wuchs, Zerfall. Ein wenig wie der Jahreszyklus mit Aufbruch im Frühling, Pracht im Sommer, Reife und Ernte im Herbst und Stille und Tod im Winter.
Damals lebten Opa und Oma Kraus mit in unserem Haus. Opa war erst ein paar Jahre aus russischer Gefangenschaft zurück. Ich wußte nicht, was das bedeutete und es wurde auch nicht darüber gesprochen. Das einzige, was er gelegentlich als Mitbringsel aus zwei Kriegen bezeichnete, war das Rheuma. In seiner Nähe roch es immer nach Franzbranntwein. Eine gläserne Flasche mit blauem Etikett stand immer griffbereit. Er rieb sich regelmäßig die schmerzenden Gelenke damit ein.
Auch erinnere ich mich, daß er tatsächlich im Sommer mit Brennnesseln seine Knie auspeitsche. Ein Horror, allein die Vorstellung daran. Die Schmerzen müssen also erheblich gewesen sein, sich solch einer Tortur zu unterziehen.
Darüberhinaus war er ein Naturromantiker. Er konnte malen, vor allem Stillleben, und auch gut mit Holz arbeiten. Es trieb ihn stets in Wald und Flur. Täglich, mit den Händen auf dem Rücken verschränkt und manchmal einen Grashalm zwischen den Lippen, drehte er sinnierend seine Runde. Ich glaube, nach seinen unmenschlichen Erlebnissen suchte er den Frieden und die Ruhe in der Natur. Wenn es zeitlich paßte und ich keine anderen Verpflichtungen hatte, nahm er mich mit. Es gab viel zu lernen für mich auf diesen kleinen Wanderungen. Er erklärte die unterschiedlichen Bäume, wie sie an Stamm und Blatt zu erkennen sind, er schnitzte im Frühjahr aus saftigen Haselnußzweigen kleine Trillerpfeifen, erklärte im Herbst die Pilze am Wegesrand und zog dick vermummt im Winter meinen Schlitten.
Im Moment war er für den Schulunterricht mein idealer Sparringspartner. Beim heutigen Rundgang zum nahen Wald sahen wir die Verfärbung des beginnenden Herbstes schon deutlich. Bald würden die Laubbäume kahl sein und nur die Nadelhölzer noch das gewohnte, dichte Grün auf den Hängen bilden. Es rieselte bei jedem Windstoß einen Schwall Blätter und es prasselten überall die Früchte zu Boden. Besonders unter Eichen lag ein wahrer Teppich aus Früchten. Opa erklärte, daß die wohl ein sogenanntes Mastjahr haben. Die Waldbäume produzieren in verschiedenen Jahresabständen besonders viele Früchte. Als die Bauern im Dorf noch ihre Schweine zur Fütterung in den Wald trieben, gab es in diesen Jahren besonders fette Schlachttiere, daher der Name Mastjahre.
Opa drückte mir ein besonders kräftiges Exemplar einer Eichel in die Hand und sagte: „Damit ziehst du deinen eigenen Baum!“
Tatsächlich suchten wir zuhause angekommen einen Blumentopf, etwas Erde und ich steckte die Frucht tief hinein. Ich sollte künftig darauf achten, daß der Topf nicht austrocknete, aber auch nicht zu naß war. Mein Schatz sollte ja nicht verfaulen. Auf der Fensterbank meines Zimmers hatte der kahle Topf nun seinen Platz. Ich kontrollierte anfangs täglich, ob alles in Ordnung war, ob schon etwas Grün zu sprießen begann. Aber enttäuscht ließ das Interesse nach und in der kalten Winterzeit, gefror das Wasser an meinem Zimmerfenster zu phantastischen Eisblumen. Der Topf ruhte davon unbeeindruckt.
Die Monate vergingen und der tiefe, nordhessische Winter mit viel Schnee und Eis zog sich nach und nach zurück, machte dem Frühling Platz. Ich hatte mein Experiment fast schon vergessen und sollte auf Geheiß meiner Mutter doch endlich diesen blöden Pott wegwerfen. Da kam etwas Grün zum Vorschein. Ich war platt. Nach so langer Zeit? Aber es war ja Winter gewesen. Und nun Frühling, Zeit für neues Leben. Stolz erzählte ich Opa davon und zeigte ihm das Ergebnis. Wir verabredeten, den jungen Trieb nun nach draußen zu stellen, an einen schattigen Platz. Dort würde er den natürlichen Rhythmus von Sonne, Regen, Licht und Schatten nutzen, um zu gedeihen. Bei Trockenheit im Sommer mußte ich noch aufpassen, doch sogar den ersten Winter überstand mein Baum schon allein. So kam 2-3 Jahre später der Tag, als Opa sagte: „Ich glaube deine Topfeiche braucht jetzt mehr Platz“.
Ich suchte im Garten nach einer geeignete Stelle. Der junge Baum sollte ja nicht bei der nächsten Mähaktion meines Vaters unters Messer kommen. Hinterm Maschendrahtzaun, hin zu einem Bahndamm, lag ein geschützter Platz. Ich grub dort also ein kleines Loch und übergab das Bäumchen der Freiheit. Viele weitere Jahre wuchs und gedieh mein Eichenbaum und war schon ein paar Meter hoch. Da kam überraschend eine Reinigungsaktion der Deutschen Bahn und die Böschungen wurden radikal geschnitten.
Mir blutete das Herz. Die stolze, junge Eiche war wie alles an diesem Hang brutal niedergemetzelt worden.
Sie wäre heute 60 Jahre alt und in der Blüte ihres Lebens.
Leider sollte sie niemals eigene Früchte haben.