Sitzplatz

Eines unschönen Tages bot mir eine junge Dame ihren Sitzplatz an, im Bus oder beim Arzt, ich weiß nicht mehr. Ich hatte dankend abgelehnt.

Obwohl ich eine geraume Zeit die öf­fent­li­chen Verkehrsmittel nutzte, ist es wahr­schein­li­cher, es geschah im War­te­zim­mer. Dort herrscht noch heute huldvolle Stille, wohl in Anbetracht dessen, was jedem der An­wesenden in den nächsten Stunden drohen mag respekt­voller Umgang, da ja durchaus Tod­geweihte unter ihnen sein könnten.

Mein der Tag der Erkenntnis, die Stunde der Wahrheit, die Sekunde des Schreckens.

Im Nachhinein muß ich meine damalige, ablehnende Reaktion ver­urteilen. Erstens weil unclever, Sitzen ist deutlich an­ge­neh­mer als Stehen. Zweitens unfair, weil sich ein junger Mensch für diesen Tag ziemlich fest vor­genom­men hatte: ich be­ge­he heute eine gute Tat - und dann kam ich. Nicht mehr zu ändern.

Im Bus wäre gleiches wohl noch präg­nanter gewesen. Dort herrschen nämlich teilweise skrupellose, asoziale Zustände und auch Herrn Knigge würde es dabei regelmäßig die Fußnägel aufrollen. Im ganz normalen Regel­fall sind alle Sitze mit meist jungen bis mittel­alten Personen besetzt, selbst die Behinderten­plätze. Manchmal auch durch hoch­gelegte Füße oder abgestellte Hab­se­lig­kei­ten eines Mit­reisenden.

Die mit Krück­stock und Einkaufs-Trolli im Schlepp­tau zusteigende Uroma müßte hier nun im schaukeln­den Bus bei voller Fahrt freihändig ihren Be­hin­der­ten­aus­weis herauskamen und den kopf­hö­rer­be­du­del­ten Schirm­kap­pen­trä­ger auf­for­dern den Platz zu räumen. Gleichzeitig aber von zwei Seiten mit lauthals telefonieren­den Passagieren umgeben, die sich an den hoch ange­brachten Halte­schlaufen fest­gezurrt haben und beim plötz­lichen Umdrehen mit ihrem Rucksack hucke­pack Kol­la­te­ral­schä­den bei Mitfahreren ver­ur­sa­chen könnten, bleibt Oma lieber brav nahe der Tür stehen, sind ja nur ein paar Stationen.